Johanniskraut

Kräuterweihe – Schnitterinfest

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Das Fest des Schnitts

Der Name dieses Festes, das den Hochsommer einleitet und in meiner Tradition in der Phase des abnehmenden Mondes gefeiert wird, wenn die Sonne im Löwen steht, stammt noch aus der Zeit, als das Getreide mit der Sense geschnitten wurde.

Erinnerungen an die Ernte meiner Kindheit

In meiner Kindheit in den 50er Jahren gab es zwar Mähmaschinen, aber die abgeschnittenen Halme wurden noch von Hand zu dicken Garben gebündelt und je drei davon so zusammen gestellt, daß in ihrem Inneren ein Hohlraum entstand. So stand das Korn, bis es zum Dreschen abgeholt wurde.

Damals wuchs das Getreide so hoch, daß mein Opa, ein großer Mann, durch ein Roggenfeld gehen konnte, ohne daß sein Kopf über den Ähren sichtbar wurde.

Die Rückkehr zur Sense

Vor einigen Jahren habe ich mit dem Sensen angefangen, da ich die große Wildwiese in meinem Garten nur ein- bis zweimal im Jahr mähen möchte. Anfänglich war die ungewohnte Arbeit sehr anstrengend. Mittlerweile gelingt mir immer besser die energiesparende Bewegung aus der Taille heraus. Es gibt sogar Momente eines tranceartigen Bewusstseinszustandes, hervorgerufen von dem sanften Wusch-Wusch der durchs Gras gleitenden Sense und den gleichmäßigen Schwüngen meines Oberkörpers.

Maschinen und Menschen

Heute fährt ein Mähdrescher durch das große Rapsfeld jenseits der Gartengrenze. Es ist ein heißer und trockener Tag, ideale Erntezeit. Von morgens bis nachts sind die Maschinen zu hören.

Erleben die Männer auf diesen Fahrzeugen auch eine Trance? Möglicherweise. Aber heute sind es nicht mehr viele, die Seite an Seite die Felder mähen, sondern zwei Personen: eine steuert den Mähdrescher, die zweite fährt neben ihr her, um die frisch gedroschenen Körner in dem Anhänger hinter ihrem Trecker aufzunehmen.

Das Schnitterin-Ritual

In diesem Jahr begehe ich das Schnitterin-Ritual allein. Die Frauen, die sonst dabei sind, befinden sich auf Reisen oder sind aus anderen Gründen verhindert. Den heutigen Tag will ich ganz den wilden Pflanzen widmen.

Auch wenn die Tage wieder kürzer werden und die Sonne einen niedrigeren Bogen über den Himmel beschreibt, hat sie während der Löwe-Zeit die größte Kraft und die wilden Pflanzen enthalten die meisten ätherischen Öle.

Auf dem Weg zur Kiesgrube

Mit dem Fahrrad fahre ich zur stillgelegten Kiesgrube. Seit dem letzten Herbst versperrt ein Wall den alten Zugang. Wer sich dennoch auf das Gelände wagt, steht vor einem Schild: Privatbesitz! Zutritt verboten! Setz- und Brutgebiet. Daß hier die wenigen verbliebenen Lerchen , die Hasen und Ringelnattern einen geschützen Ort haben und die Motocrossfahrer keine tiefen Rinnen mehr in den sandigen Boden mit seiner Vielzahl an wilden Pflanzen fahren können, gefällt mir. Andererseits will ich mir diesen Platz nicht vebieten lassen. Er ist seit einigen Jahren mein wildes Refugium. Also verstecke ich das Fahrrad in der Hecke und finde einen Durchschlupf. Brombeerranken hinterlassen Schrammen auf meinen nackten Unterschenkeln. Der alte Pfad zwischen den hohen Beifußstauden ist zugewuchert.

Begegnung mit dem Beifuß

Ich brauche Beifuß für meine Schlafkissenfüllung und Tee. Diese Pflanze begleitet mich schon so lange. Als Kind spielte ich in den Trümmern, Überresten des 2. Weltkrieges, in der Innenstadt von Hannover. Dort wuchs der Beifuß im Schutt, struppige große Besen. „Beifuß ist das Kraut, das nach den Trümmern kommt“, sagte die Kräuterfrau und Heilpraktikerin Gertrude Ernst-Wernicke.

Am Rande der Kiesgrube wächst er inmitten von Rainfarn und Brennessel, teils voll erblüht, teils noch mit geschlossenen Knospen. Ich sage den Pflanzen und den wilden Wesen des Ortes, was ich vorhabe und bitte um die Erlaubnis zum Schneiden.

Am steilen Hang entlangkraxelnd schneide ich Stengel mit geschlossenen Knospen, immer nur einen pro Pflanze. Die, auf denen ein Tier sitzt, lasse ich stehen. Gertrude Ernst-Wernecke sagte einmal: „Jede Frau sollte ein eigenes Messer haben. Es stärkt ihre Eigenmacht.“

Ich liebe Messer und habe ein gutes Taschenmesser und ein Finnenmesser in einer Lederscheide. Aber zum Kräuterschneiden ist mir das Sichelmesser zum Zusammenklappen das liebste. Summend schneide ich Pflanze um Pflanze, Beifuß, auch Artemisia genannt, die mir Träume schenkt und die stockende Galle ins Fließen bringt.

Das geheime Leben der Kiesgrube

Stimmen, Lachen dringen an mein Ohr. Ich drehe mich um. Unten im klaren Wasser des Teiches planschen zwei Jungen. Ich freue mich, weil es außer mir noch mehr Menschen gibt, die ein Verbot nicht akzeptieren können. Das Spielen in den Trümmern damals, als ich ein Kind war, war natürlich auch verboten, aber es gibt Verbote, an die man sich einfach nicht halten kann.

Mit dem Messer in der Hand bewege ich mich achtsam. Die Sonne brennt, die Kinder lachen, die Grillen zirpen, in mir öffnet sich etwas und wird ganz weit. Als das Beifußbündel dick genug ist, binde ich es mit Bast zusammen und bringe es zum Durchgang in der Hecke.

Dann gehe ich zurück ins Innere der Grube, bedächtig, um alles zu sehen: Königskerze, Rotklee, Kanadische Goldrute, üppige Polster blühender Dost, in dem Honigbienen summen, gelber Rainfarn.

Die Sprache der Pflanzen

Ich setze mich auf den warmen trockenen Boden und lasse meinen Blick wie fühlende Finger über die blühende Schafgarbe streichen: die kleinen weißen fünfblättrigen Blüten sitzen dicht nebeneinander, darin winzige gelbe Staubgefäße. Die ganz fein gefiederten Blättchen, Augenbraue der Venus wurde die Pflanze auch genannt, der graugrüne Stengel, eine Pflanze des Hochsommers, Medizinpflanze. Schafgarbe ist rar geworden. Sie mag keine gedüngten und gespritzen Böden.

Während ich die Pflanze ansehe, in den Ohren das Zirpen der Grillen, das Singen der Vögel, die entfernten Laute der Badenden, sinke ich tief in die Welt der wilden Pflanzenwesen, bin mit ihnen auf Augenhöhe, Teil eines vibrierenden lebendigen Netzes.

Johanniskraut und Erinnerung

Die gelben Blüten des Johanniskrautes lachen mich an. Sie erinnern an kleine Windräder mit ihren asymmetrischen Blütenblättern. Ein üppiges Büschel goldgelber Staubfäden entspringt aus ihrer Mitte. An einer Pflanze befinden sich viele Blüten in allen Altersstufen: Knospen mit schwarzen Längsstrichen, aus denen beim Zerreiben violettroter Saft austritt, weit geöffnete Blüten und grüne Fruchtkapseln

Das Johanniskraut hat mir mein Vater auf einem unserer Spaziergänge gezeigt und es hat mich später ermutigt, als ich mich schwer und düster fühlte.

Der Strauß der Schnitterin

Am späten Nachmittag komme ich mit meinem Strauß aus sieben Pflanzen nach Hause: Artemisia, Johanniskraut, Schafgarbe, Wasserhanf, Brennnessel, Gundermann, Huflattich und dazu kommt Ringelblume aus meinem Garten. Acht Wesenheiten aus dem grünen Volk, denen ich mich besonders verbunden fühle.

Sie werden mit dem Rauch von Beifuß, Wasser und Feuer geweiht. Jetzt hängen sie im Flur und erinnern mich daran, daß sie lange vor mir waren und meine Urahnen sind, daß sie mich nähren und heilen und daß ich im Reich der Fülle lebe – im großen wilden Garten von Mutter Erde.

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