Ahnen und Heilung

Ahnen und Heilung

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Wer sind die Ahnen und was haben sie mit Heilung zu tun?

Ich lese ein Interview mit Prof. Dr. Dr. Malidoma Somé aus Burkina Faso1. Seine Gleichsetzung von „Ahnen“ und „dem Unterbewussten“ fasziniert mich: „Afrika hat kein Wort für das ‚Unterbewusste‘, nur Europa kennt diesen Begriff… Das Unterbewusste ist – um es mal mit anderen Worten zu beschreiben – nichts anderes als eine Art Aufnahmegerät, das die Erfahrungen von Tausenden von Jahren kultureller Erfahrungen aufgezeichnet hat. In Afrika nennen wir das die ‚Verbindung zu den Ahnen‘, in Europa spricht man von der ‚Macht des Unterbewussten‘“.

Die Wiederentdeckung der Ahninnen und Ahnen

In Europa ist es nicht üblich, von den Ahnen zu sprechen. Zumindest die spirituelle Frauenbewegung hat die „Ahninnen und Ahnen“ salonfähig gemacht, indem sie die Allerheiligen-Allerseelen-Feiern von den katholischen Überlagerungen befreite. So feiern seit den 80er Jahren des letzten Jahrhunderts Frauen und gelegentlich auch Männer die Tage um den 1. November als Zeitraum, in dem der Schleier zwischen der Alltagswelt und der Welt der Toten durchlässig ist und uns Kontakt mit den Ahninnen und Ahnen gewährt. Es werden Lichter für sie angezündet, sie werden zum gemeinsamen Essen und Trinken eingeladen und bekommen ein eigenes Gedeck. In unseren Ritualen sprechen wir manchmal laut die Namen unserer Ahninnen aus, soweit sie in unserer Erinnerung leben.

Die Linien der Erinnerung

Beim Schreiben fällt mir auf, daß in meiner Ritualgruppe immer nur die Namen der weiblichen Ahnenlinie – Mütter, Großmütter und Urgroßmütter – genannt werden. Das ist als Reaktion auf die jahrtausendealte Unterdrückung und Entwertung der Frauen verständlich. Ich möchte aber die männliche Ahnenlinie in Zukunft mit einbeziehen und werde darauf später zurück kommen.

Wer sind unsere Ahnen? Natürlich wissen wir, daß das unsere Eltern, Großeltern und Urgroßeltern und diejenigen vor ihnen sind. Je weiter wir in die Vergangenheit zurückgehen, desto mehr verästelt sich der Familienstammbaum. Was sich uns zeigt, sind unsere Wurzeln. Unsere Ahninnen und Ahnen sind die, durch die uns eine Inkarnation als Menschen auf dieser Planetin möglich wurde.

Die Macht des Erbes

In unseren erstaunlichen und wunderbaren Körpern tragen wir die Traditionen, Glaubenssätze, Gewohnheiten und Erfahrungen unserer unzähligen Wurzeln. Sie lagern in uns wie Eingemachtes im Keller, sie sind unbewusst und werden es in der Regel auch bleiben. Obwohl wir sie weder sehen noch fassen können, bestimmen sie in hohem Maße unser Leben: als unerklärliche Angst, als unüberwindliche Abneigung, als besonderes Talent, als plötzlich durchbrechender Impuls. Vielleicht blitzen selten mal Bilder, Szenen, Gerüche, Eindrücke auf, die aus einer Zeit zu stammen scheinen, die wir mit diesem Körper gar nicht erlebt haben können.

Die Ahninnen und Ahnen wirken aus der Vergangenheit in die Gegenwart. Ein bekannte afrikanisches Sprichwort sagt: Wir sind nur groß, weil wir auf den Schultern unserer Ahnen stehen. Vor Jahren habe ich mir von der Kykladeninsel Naxos die Nachbildung einer kleinen Statuette mitgebracht. Es ist eine schlanke weibliche Gestalt mit verschränkten Armen, auf deren Kopf ein ganz ähnlich geformtes Kind steht. Die Entstehung dieser Figur wird auf den Zeitraum 1500 bis 3000 v.d.Z. datiert. Die Archäologin Marija Gimbutas zählt sie zu den Göttinnen des Todes und der Regeneration.

Wenn Ahninnen und Ahnen durch alle Zeiten hindurch wirken, gibt es ein Problem: was ist mit denjenigen, die wir gern aus unserer Ahnenreihe tilgen würden? Was ist mit dem missbrauchenden Vater, der vernachlässigenden Mutter, dem SS-Großvater und der Stasi-Großmutter? Wenn ich noch weiter zurück schaue: Was ist mit dem Raubritter unter unseren Vorfahren, mit dem Großgrundbesitzer, der seine Leibeigenen schlecht behandelt und sich das „Recht der ersten Nacht“ herausnimmt? Was ist mit all den Päpsten, Inquisitoren, Henkern, Folterknechten, Denunziantinnen? Wenn ich noch weiter zurück gehe, komme ich bei den keltischen und germanischen Kriegern an, die aus der asiatischen Steppe nach Europa kamen und die friedliche Urbevölkerung mit Gewalt, Raub und Vertreibung überzogen. Sie sind alle unsere Ahninnen und Ahnen. Wir tragen eine Menge Gewalt und Entwurzelung in unseren Genen.

Es bringt uns wohl kaum weiter, wenn wir die, die vor uns waren, glorifizieren und ebenso wenig, wenn wir sie ignorieren. Deshalb werde ich bei künftigen Ahninnen-Ritualen auch die männlichen Vorfahren nennen. Einen Teil meiner Herkunft zu verleugnen bedeutet einen Teil meiner selbst zu verleugnen.

Die Macht des Erbes

Mir hat es gut getan, zunächst anzuerkennen, daß ich alles in mir habe: das Gewalttätige und das Liebevolle, das Kreative und das Zerstörerische, die Zärtlichkeit und die Strenge, die rasende Wut und die ausgleichende Weisheit. Als Angehörige der 68er-Generation habe ich lange Jahre damit verbracht, meinen Eltern schwere Vorwürfe zu machen: sowohl für ihr passives Mittun im Nationalsozialismus wie auch für meine persönlichen Schwierigkeiten. Mein Zorn ihnen gegenüber loderte mit wechselnder Heftigkeit und wurde durch eine Körpertherapie und anschließende Therapieausbildung immer wieder angefacht.

Irgendwann aber war ich es leid, auf Anweisung meines Lehrers zum hundertsten Mal meinen Vater symbolisch mit Hilfe eines Teppichklopfers und eines Matratzenstapels zu verhauen und zu beschimpfen. Es brachte mir nur noch Blasen am Daumen und eine heisere Stimme. Das, wonach ich mich sehnte, konnte ich so auf keinen Fall erreichen. Wonach aber sehnte ich mich? Ich wollte endlich mit mir selbst im Reinen sein und mich wohl in meiner Haut fühlen. Ich wollte den Krieg gegen eine Vergangenheit aufgeben, die nicht mehr zu ändern war.

Ich ahnte auch, daß ich selbst über kurz oder lang das Objekt des Zorns meiner Kinder sein würde. Ich konnte mir als Mutter einiges vorwerden und gleichzeitig erkennen, daß ich alles immer so gut gemacht hatte, wie ich konnte. Hinterher weiß eine immer mehr und beginnt vielleicht ihren Ahnungen zu glauben. Durch sie sprechen unsere Ahninnen zu uns.

Die Heilung durch Begegnung

2004 hatte ich die Gelegenheit mich bei einem gemeinsamen Mallorca-Urlaub mit meiner Mutter über die Vergangenheit zu unterhalten. Ich erzählte ihr, wie sehr ich darunter gelitten hatte, daß meine Wünsche etwas mit Jungen anzufangen, massiv von meinen Eltern behindert wurden. Sie antwortete bedauernd: „Ich war ein Kind meiner Zeit.“ Da keimte Verständnis in mir, sogar ein wenig Mitgefühl.

Frieden mit den Ahnen

Den letzten Schliff bekam die Versöhnung mit meinen Ahnen durch eine Naikan-Woche 2008. Naikan2 ist eine Selbsterkenntnismethode, bei der eine Person eine Woche lang von früh morgens bis spät abends hinter einem Wandschirm sitzt, abgeschnitten von allen Außenreizen, und sich mit drei Fragen befasst, die sich auf einen oder mehrere Menschen aus meinem Beziehungsumfeld beziehen. Das sind in der Regel Mutter, Vater, Großeltern, Liebespartner, Kinder. Die drei Fragen sind:

  • Was hat diese Person für mich getan?
  • Was habe ich für sie getan?
  • Welche Schwierigkeiten haben wir ihr verursacht?

Alle zwei bis drei Stunden kommt der Naikan-Leiter, öffnet den Wandschirm ein wenig und fragt: „Was hast du herausgefunden?“ Er lässt sich berichten ohne zu kommentieren, verbeugt sich und schließt den Wandschirm wieder.

In der Abgeschiedenheit und Selbstbezogenheit, in der alle gewohnten Ablenkungsmöglichkeiten wegfielen – sogar das sehr gute, liebevoll zubereitete Essen bekam ich hinter dem Schirm serviert – habe ich mich Tag für Tag tiefer und detailgetreuer an sehr weit zurückliegende Ereignisse erinnern können und mehr als einmal kamen mir die Tränen bei der Erkenntnis, was ich von meinen Eltern und Großeltern (und Ehemännern) bekommen habe.

Wir sind es so sehr gewöhnt, wie unter einer Lupe die Verfehlungen und Versäumnisse der anderen zu sehen. Durch die drei Naikan-Fragen wird jedoch der Blick wirkungsvoll immer wieder auf die bisher in Dunkel gehüllte Seite gelenkt. Das führt erst zu einem vollständigen Bild.

Für mich war Naikan der Weg, der mich weiterbrachte, um das ganze Wurzelwerk meiner Vorfahren anzunehmen und Frieden zu erlangen. Indem ich meine Ahninnen und Ahnen annahm, konnte ich heil und ganz werden. Indem ich mit ihnen Frieden schließe, kann ich auch in Frieden mit mir selbst sein.

Übrigens hat mein persönlicher Ahnenversöhnungsprozess einen unerwarteten Nebeneffekt hervorgebracht: In seinen letzten Lebensjahren konnte mein Vater mir das Lob und die Anerkennung geben, die ich mir solange vergeblich gewünscht hatte.

Ähnliches habe ich auch von anderen gehört: Hört das innere Verurteilen auf, verändert es das eigene Feld ebenso wie das der Menschen um mich herum. Dann wird zwischenmenschliche Entspannung möglich.

Nachdem ich von unseren menschlichen Ahninnen gesprochen habe, möchte ich tiefer in die Zeit hinabsteigen:

Erweiterte Ahnenlinie – alles Leben

Die menschliche Gattung ist nicht aus dem Nichts entstanden. Als Menschen sind wir die jüngste Variante der Säugetiere. Aus ihnen sind wir entstanden, sie leben als Ahnen in unserer DNA. Wir können noch weiter zurückschauen: die Reptilien, die Weichtiere, die Insekten, die Fische, die Saurier sind unsere Ahninnen und Ahnen. Sämtliche Pflanzen einschließlich der Farne und Schachtelhalme, die Pilze, Bakterien und Viren, die Einzeller der Urzeit, die Urelemente Wasser, Feuer, Erde, Luft, Licht, Sterne, wirbelnde Galaxien, die dunkle Materie und das Chaos des Urknalls – alles, was vor uns war, tragen wir in uns. Ich halte es für möglich, daß unsere Ahnenlinie noch weiter zurück reicht, aber hier verlässt mich meine Vorstellungskraft.

Alles ist miteinander verwandt

In den oft zitierten Worten der nordamerikanischen First Nations „alle meine Verwandten“ finden wir das Bewusstsein davon, daß die Kopffüßler der Jura- und Kreidezeitmeere unsere Knochen bilden und das Wasser der Urmeere und Eiszeitgletscher mit unseren Körperflüssigkeiten zirkulieren, daß die Luft, die wir einatmen, zuvor von den grünen Pflanzen ausgeatmet wurde und die Wärme unsere Körper auf unsere genetischen Verbindung zum Feuer hinweist.

Auch in Europa gab es dieses Bewusstsein einmal: unter den Höhlenbildern der altsteinzeitlichen Jäger-Sammlerinnen-Kulturen finden sich Mischwesen, z.B. Vogelfrauen und Hirschmänner, die auf die auf diese tiefe Verbindung hinweisen.

Das aus dem Althochdeutschen abgeleitete Wort „Enkel“ bedeutet „kleiner Ahn“. Hier finden wir den universellen Glauben an die Wiedergeburt, die zyklische Wiederkehr alles Lebendigen. Die Überzeugung, daß alles, was vergeht wieder geboren wird, macht die Würdigung der Ahninnen vollständig.

Wenn wir nun anfangen können, uns vorzustellen, daß wir wirklich mit allem verwandt sind und uns als bisher jüngstes Kind unserer unzähligen Vorfahren sehen, dann beginnt möglicherweise auch unser Organismus irgendwann zu fühlen, daß es keine Trennung zwischen uns und der Natur gibt.

Nehmen wir die, die uns den Weg bereitet haben, wieder in unser Leben, werden wir zu einem ungeheuer weiten Raum, in dem der ganze Kosmos wohnen kann. Dann sind wir heil!


1 Geseko von Lüpke, Altes Wissen für eine neue Welt

2 www.naikan.de

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